Texte
Katharina Arlt | Kunsthistorikerin
Es gibt Linien in unseren Gesichtern, die nicht nur von Freude und Heiterkeit, vielmehr von Krankheit, Leid und Kummer erzählen – landläufig Sorgenfalten genannt. Ein Ort wie dieser, an dem solche Spuren von fachkundiger Hand gemildert werden, eröffnet die Gelegenheit, über Vollkommenheit und die stille Beredsamkeit dieser, aber auch anderer Linien nachzudenken: Denn jede Falte, jede feine Vertiefung trägt die Erinnerung an Empfindungen, an Augenblicke, die uns geformt haben – gewissermaßen ein Widerhall des Erlebten und der Zeit. So sind unsere Gesichter keine bloßen Leinwände des Verfalls, sondern feine Reliefs eines Daseins, in die sich eine sichtbare Topografie existentieller Erfahrung eingeschrieben hat. Auch für Susanne Hampe ist die Linie, in all ihren Varianten, ein wesentliches Moment in ihrem künstlerischen Werk. Eine Reihe ihrer Arbeiten zeigt das menschliche Lineament, das uns alle eint - ein Skelett bei alltäglichen Verrichtungen: sitzend in einem blutroten Interieur, an einem gedeckten Tisch – wie ein "Jedermann" - nur aus weißen Knochenumrisslinien bestehend, das diesseitige Leben um sich herum betrachtend. Mit feiner Ironie verbindet die Künstlerin hier Selbsterkenntnis und Sterblichkeit und verweist auf jenes alte delphische „Erkenne dich selbst“, dass uns daran erinnert, dass das Wissen um unsere Endlichkeit vielleicht das Einzige ist, was uns wahrhaft miteinander verbindet. Die alles bestimmende Linie findet sich in weit abstrakterer Gestalt wieder: als geschlossener Kreis – die Form der Vollkommenheit, als gekrümmte Kante in Papierschnitten, die die Künstlerin, mittels Skalpell in mehrere Schichten farbiger Kartons einschneidet. Ihre Linien verlaufen kurvig und unregelmäßig, entstehen aus einer fließenden, kontrollierten Bewegung der Hand. Durch den Schnitt wird die Linie zur realen Begrenzung, sie trennt und definiert zugleich. Die geschlossenen, oft kreisförmigen Formen tragen eine innere Spannung, die aus dem Verhältnis von Krümmung und Mittelpunkt hervorgeht. Entscheidend ist die umschlossene Fläche – sie wird zur eigenständigen Figur, während der Umraum in den Hintergrund rückt. Die Kreisformen und elliptischen Gebilde verweisen auf das Prinzip des Unendlichen: auf Strukturen, die keinen Anfang und kein Ende besitzen. Sie erinnern an zelluläre Organismen, an mikroskopisch betrachtete Ursprungsformen des Lebens schlechthin. Durch die Überlagerung farbiger Kartons in gebrochenem Weiß, Grau oder Rosé entstehen feine Tiefenstaffelungen, die den Charakter des Schwebenden zweier oder mehrere Ebenen hervorrufen. Die Papierschnitte bewegen sich damit zwischen Zeichnung, Relief und Objekt. Der Schnitt ersetzt die zeichnerische Linie, der Karton die Leinwand; Abwesenheit wird zur eigentlichen Form. Diese Umkehrung, Form als Ergebnis des Entzugs, verleiht den Papercuts eine leise, aber präzise Spannung. In ihrer Materialität bleibt die Künstlerin dem Papier verpflichtet, doch ihr bildnerisches Denken ist dem szenischen Raum verbunden, eine Folge ihres Studiums im Fachbereich Bühnen- und Kostümbild, das sie in Dresden (bei Günter Hornig) und in Berlin (bei Volker Pfüller) absolvierte. Seit 2020 ist sie nun selbst Dozentin für das Künstlerische Grundlagenstudium des Fachbereichs Theaterdesign an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Nach zahlreichen Studienaufenthalten u.a. in den USA, lebte die Künstlerin viele Jahre in Norddeutschland bevor sie an ihren Geburtsort Dresden zurückkehrte. Seither wurde sie mit zahlreichen Stipendien und Gastspielförderungen ausgezeichnet. Ihre Arbeiten sind in bedeutenden öffentlichen und privaten Sammlungen in ganz Deutschland vertreten. Aus ihrem umfangreichen Oeuvre, das textile Installationen, Druckgrafik, das Medium des Künstlerbuchs aber auch Objektkunst umfasst, sehen Sie in der Ausstellung eindrucksvolle Beispiele, die sich zwischen Malerei und Zeichnung bewegen. In einer weiteren Werkgruppe nimmt Susanne Hampe die Linie als Spur eines sich über die Fläche bewegenden Punktes zum Anlass. Die Arbeiten eint die Abfolge horizontaler Linien, die Hampe in langwierigen Prozessen mit Pigmentstift freihändig auf einem grundierten Holzträger zieht. Zwischen jede Zeichnungsschicht legt die Künstlerin eine Ebene aus transparentem Kunstharz, die nach dem Trocknen erneut als Grundlage für weitere Linien dient. So entsteht ein vielschichtiger Aufbau, bei dem sich Zeichnung und Material wechselseitig überlagern. Die Geraden variieren in Dichte, Tonwert und Verlauf. Mitunter ist die Linienführung exakt, bisweilen minimal versetzt, wodurch die Oberfläche zu flimmern beginnt. Durch das Übereinander von Farbe und Harz gewinnen die Linien eine körperhafte Präsenz; sie scheinen nicht auf der Fläche zu liegen, sondern im Raum zu schweben. Das Licht bricht sich in den transparenten Schichten und lässt die Farbtöne – von tiefem Karmin bis zu hellem Rosé – unterschiedlich leuchten. Die horizontale Gliederung verleiht den Werken Ruhe und Ordnung, während die leichte Unregelmäßigkeit der Handführung eine rhythmische Bewegung erzeugt. Die Linie erscheint hier nicht als Umriss, sondern als eigenständiges Element – als Puls, der das Bild trägt. In der seriellen Wiederholung wird sie zur Zeitspur: Jede Linie markiert einen Moment, jede Schicht ein abgeschlossenes Intervall. Die Arbeiten dieser Werkgruppe erinnern an Strategien der Konkreten Kunst und an die prozesshaften Farb- und Materialschichtungen der Minimal Art, bleiben aber durch die handgeführte Linie dezidiert individuell. Der Raum entsteht nicht illusionistisch, sondern materiell – durch Verdichtung, Transparenz und Rhythmus. So wird die Linie zum Träger einer stillen Bewegung: Sie bezeichnet nicht, sie ist. Ihre Vielschichtigkeit übersetzt Zeit in Fläche und verwandelt die Wiederholung in ein vibrierendes Kontinuum von Wahrnehmung. Abschließend will ich sie auf eine frühere Werkserie der Künstlerin verweisen, die den Objektcharakter ihrer Arbeit stärker betont. Sie basiert ebenfalls auf grundierten Holzträgern, über den semitransparente, farbig gefasste Papiere in collageartiger Schichtung aufgebracht sind. Darüber trägt Hampe erneut eine glatte Schicht aus Kunstharz auf, die die darunterliegenden Formen bündelt und zugleich optisch vertieft. In den Kompositionen überlagern sich geometrisch geschnittene Flächen in unterschiedlichen Rottönen – von leuchtendem Karmin bis zu dunklerem Purpur. Die Transparenz der Papiere lässt die Schichten ineinandergreifen; Konturen werden weich überblendet, neue Zwischenfarben entstehen. Die überlagerte Struktur erzeugt eine subtile Räumlichkeit, die durch das sie durchtränkende, glänzende Harz noch verstärkt wird. Das Bildfeld wird von klar gesetzten Formen bestimmt, die an architektonische oder konstruktive Elemente erinnern, zugleich aber durch minimale Verschiebungen und Überlagerungen eine fragile Balance erhalten. In diesen kontrollierten Kompositionen begegnen sich Ordnung und Zufall, Präzision und Materialität. So entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Fläche und Raum, zwischen Opazität und Transluzenz – eine Untersuchung darüber, wie Farbe, Licht und Material sich gegenseitig durchdringen und in der Schichtung zu einem eigenen Bildraum verdichten. Susanne Hampes Werk kreist in all seinen Ausprägungen um die Linie als grundlegendes Prinzip des Sichtbarmachens. Ob als Schnitt, Spur, Verdichtung oder Grenze – sie ist Ausdruck einer konzentrierten künstlerischen Haltung, die Wahrnehmung als Prozess versteht. In der materiellen Schichtung ihrer Arbeiten wird Zeit erfahrbar: Jede Linie, jede Fläche steht für einen Moment der Entscheidung, des Innehaltens, des Weiterführens. So entsteht ein Werk, das durch die Konzentration auf einfache Mittel eine eindringliche formale und gedankliche Tiefe erreicht – eine Kunst, die aus der Reduktion ihre Erkenntnis gewinnt.